Kennt ihr diese Artikel, in denen euch gesagt wird, welche Klassiker der Literatur ihr gelesen haben solltet? dtv sagt es uns, literaturtipps.de, ntv und viele, viele mehr. Aber welche Klassiker muss man nicht lesen?
Ich könnte die Frage mit einem Satz beantworten – man braucht keinen einzigen gelesen zu haben –, aber das wäre ja langweilig.
Warum sollen wir Klassiker lesen?
Was zeichnet diese Werke aus, dass man sie dreißig, dreihundert oder dreitausend Jahre nach ihrer Entstehung noch gelesen haben soll? Als Gründe werden angeführt:
- weil sie spätere Schriftsteller bzw. die Gesellschaft als Ganzes stark beeinflusst haben,
- weil in ihnen innovative neue Schreibtechniken verwendet bzw. perfektioniert werden,
- weil sie Grundlegendes zu einem wichtigen Thema zu sagen haben und
- weil man durch sie viel über die Zeit lernen kann, in der die Romane spielen.
Wenn das wahr ist, warum steht dann „Germinal“ von Émile Zola, auf den alle Punkte in einem gewissen Maß zutreffen, nicht auf diesen Listen?1Ein Roman, der uns die entwürdigenden Bedingungen, die in französischen Bergwerken im 19. Jahrhundert herrschten, und die unmenschliche Ausbeutung von Arbeitskräften eindringlich vor Augen führt.
Warum brauchen wir Klassiker nicht zu lesen?
Wir gehen jetzt alle mal kurz in uns und überlegen, warum wir lesen. Privat lese ich:
- weil ich gut unterhalten werde,
- weil mich das Thema, das Setting und/oder die Hauptpersonen faszinieren,
- weil es mir stilistisch und sprachlich gefällt,
- weil ich die Handlung glaubwürdig, spannend und überraschend finde,
- weil der Roman Grundlegendes zu einem wichtigen Thema zu sagen hat und
- weil ich dadurch etwas Neues lerne. Vielleicht über eine mir fremde Kultur oder Zeit, vielleicht aber auch weil ich einen neuen Blickwinkel auf etwas Vertrautes erhalte.
Als Lektorin interessiert es mich beispielsweise außerdem, wie sich Klischees über die Jahrhunderte gewandelt haben oder wie Dialoge im 19. Jahrhundert geschrieben wurden. Darum lese ich manchmal ältere Werke, die ich sonst wohl nicht läse.
Aber mir erschließt sich nicht, warum irgendjemand „Mrs. Dalloway“ von Virginia Woolf lesen sollte, nur weil es als einer der frühesten Romane gilt, in denen der Bewusstseinsstrom eingesetzt wird. Damit man beiläufig erwähnen kann, dass die Verflechtung von Thema und Stil durch den Bewusstseinsstrom in „Mrs. Dalloway“ ausgereifter sei als bei „Schall und Wahn“ von William Faulkner, um so die eigene Intellektualität zu demonstrieren?
Lesen soll aus meiner Sicht als allererstes Spaß machen. Verdirbt euch einer der folgenden Punkte die Freude daran?
- Altmodische und schwer verständliche Sprache,
- Stil oder Sprache, die euch nicht gefallen,
- Weitschweifigkeit,
- unglaubwürdige Zufälle,
- unsympathische Hauptfiguren.
Dann sehe ich keinen Grund, warum ihr das Buch trotzdem lesen solltet, nur weil es als Klassiker gilt.
Von der „Ilias“ bis zu „Faust“
Singe den Zorn, o Göttin, des Peleiaden Achilleus,
Ihn, der entbrannt den Achaiern unnennbaren Jammer erregte,
Und viel tapfere Seelen der Heldensöhne zum Aïs
Sendete, aber sie selbst zum Raub darstellte den Hunden,
Und dem Gevögel umher. So ward Zeus Wille vollendet:
Seit dem Tag, als erst durch bitteren Zank sich entzweiten
Atreus Sohn, der Herrscher des Volks, und der edle Achilleus.Homer: Ilias
Ich möchte beim Lesen eigentlich nicht ein Lexikon zur griechischen Mythologie und eine Interpretationshilfe neben mir liegen haben und nach jeder Zeile etwas nachschlagen, um zu verstehen, worum es geht. Dabei muss ein Klassiker nicht einmal Jahrtausende alt sein, um Verständnisprobleme zu bereiten.
Die Sonne tönt, nach alter Weise,
In Brudersphären Wettgesang,
Und ihre vorgeschriebne Reise
Vollendet sie mit Donnergang.
Ihr Anblick gibt den Engeln Stärke,
Wenn keiner sie ergründen mag;
die unbegreiflich hohen Werke
Sind herrlich wie am ersten Tag.Johann Wolfgang von Goethe: Faust
Eingängiger als die „Ilias“, aber trotzdem was soll „Die Sonne tönt in Brüdersphären Wettgesang“ bedeuten?
Von „Ulysses“ bis „Der Process“
In dem Youtube-Video „Why you should read James Joyce’s ‚Ulysses‘“ heißt es, dass jedes Kapitel in einem anderen Stil geschrieben ist – als Theaterstück, als spätviktorianischer Liebesroman, als Entwicklung vom Altsächsischen über das mittelalterliche Englisch bis zur Sprache aus Joyce‘ Zeit etc.2Oder dass der Roman gespickt ist mit Anspielungen auf mittelalterliche Philosophie, die Odyssee, die Symbolik von Tatoos usw. Für mich ist das ein Grund, „Ulysses“ nicht zu lesen. Es klingt, als habe Joyce mit seiner Bildung angeben wollen, indem er viele Stile imitiert. Schön für ihn, dass er so belesen war, aber hätte er nicht einfach einen unterhaltsamen Roman schreiben können?
Der Bewusstseinsstrom ist auch ein Stilmittel, dem ich nichts abgewinnen kann, sodass ich Bücher, in denen er genutzt wird, meistens weglege. Ich bewundere dagegen den Stil von Franz Kafka, das Absurde, Traumhafte und gleichzeitig Nüchterne. Sein Einsatz erzeugt in „Der Process“ Beklemmung und verstärkt die Ohnmacht, die der Protagonist gegenüber einer gesichtslosen, scheinbar willkürlich agierenden Institution verspürt. Nur sagt mir genau dieser Stil nicht zu, weshalb es mir schwerfiel, das Buch zu lesen.
Von „Verlorene Illusionen“ bis „Reise um die Erde in 80 Tagen“
Honoré de Balzac, Autor von „Verlorene Illusionen“, ist der Typ, der euch auf einer Party alle fünfzig anwesenden Gäste vorstellt und sich für jeden fünf Minuten Zeit nimmt, in denen ihr alles erfahrt über ihre Herkunft, die Berufe ihres Vaters, Großvaters und Urgroßvaters, ihre Lieblingsfarbe, Namen, Rasse und Verhalten jedes Hundes, den sie besessen haben, alle Kinderkankheiten, die sie hatten, den Zustand ihrer Ehe, ihre Gedanken über die Geranien der Nachbarin sowie eine ausführliche Beschreibung der Kleidung, die sie auf der Party tragen, ergänzt dadurch, wo sie die Kleider gekauft haben und warum sie keins der anderen acht Sommerkleider/-anzüge tragen können, die sie besitzen. Wenn ihr dann völlig erschöpft in den Seilen hängt, erfahrt ihr, dass ihr von allen Anwesenden genau zweien im weiteren Verlauf des Romans wiederbegegnen werdet, eine davon die unsympathische Hauptfigur Lucien Chardon. Danke, Balzac!
Diese Art des ausschweifenden Schreibens ist ein Phänomen früherer Jahrhunderte. Die Handlung kommt kaum voran. Die Charaktere und ihre Vorgeschichte werden nicht durch Aktionen und Dialoge gezeigt, sondern ein (oft auktorialer Erzähler) berichtet sie uns in epischer Breite.
Phileas Fogg trachtete danach, durch nichts und niemandem aufzufallen; und doch zählten ihn seine Zeitgenossen zu den eigenwilligsten und berühmtesten Mitgliedern des Londoner Reform Club. Darüber hinaus wusste man so gut wie nichts von ihm, es sei denn, dass er ein vollkommener Gentleman und eine der elegantesten Erscheinungen der englischen Oberschicht war.
Man sagte ihm eine Ähnlichkeit mit Lord Byron nach – natürlich nur in den Gesichtszügen; denn Mr. Foggs Füße waren tadellos geformt. Vom echten Byron unterschieden ihn auch der modische Schnauz- und Backenbart, aber er trug sich mit derselben erhabenen Gelassenheit wie sein Vorbild, dem sogar 1000 Lebensjahre keine Alterszeit aufgedrückt hätten.
Jules Verne: Reise um die Erde in 80 Tagen
Das war das erste Siebtel der Beschreibung von Phileas Fogg zu Beginn des Romans. Die Vorlieben haben sich aber geändert hin zu einer temporeicheren, szenischeren Erzählweise. Würden „Anna Karenina“ (Lew Tolstoi), „Der Glöckner von Notre-Dame“ (Victor Hugo) oder „Dracula“ (Bram Stoker) heutzutage verfasst, wären sie deutlich kürzer und kompakter. Selbst bei älteren Werken, die ich mag, neige ich dazu, solche Passagen zu überspringen.
Von „Der Glöckner von Notre-Dame“ bis „Oliver Twist“
Auch ein gehäuftes Auftreten zufälliger, unglaubwürdiger Geschehnisse ist ein typisches Phänomen von Romanen des 20. Jahrhunderts. In „Der Glöckner von Notre-Dame“ ist die Verrückte, die auf Esmeralda bis zu ihrer Hinrichtung aufpassen soll, ihre Mutter, der Esmeralda als Kleinkind vor fünfzehn Jahren in Reims gestohlen wurde. Sie erkennt Esmeralda an einem Kinderschuh, den diese bei sich trägt.
In „Oliver Twist“ von Charles Dickens stellt sich heraus, dass Olivers erster Wohltäter, der ihn zufällig und aus reiner Herzensgüte aufnimmt, ein Freund seines verstorbenen Vaters ist, während Olivers zweite Wohltäterin, die sich seiner ebenfalls aus reiner Herzensgüte annimmt, zufälligerweise seine Tante ist.
Dieser Trick wird auch in modernen Geschichten immer noch genutzt, um die Handlung voranzutreiben. Aber durch das höhere Tempo, mehr Spannung und weil es manchmal besser versteckt wird, übersehen wir unlogische Wendungen eher.
Von „Schuld und Sühne“ bis „Berlin Alexanderplatz“
Damit ich einen Roman gerne lese, brauche ich eine Hauptfigur, mit der ich mich identifizieren kann. Wenn ich nicht gespannt verfolge, wie Protagonisten Gefahren überstehen und ihre Ziele erreichen, sondern mir nichts sehnlicher wünsche, als dass sie scheitern mögen, habe ich das Gefühl, dass irgendetwas schiefgelaufen ist. Hauptfiguren, denen ich das wünsche, sind Lucien Chardon aus „Verlorene Illusionen“, Esmeralda aus „Der Glöckner von Notre-Dame“, Catherine und Heathcliff Earnshaw aus „Sturmhöhe“ (Emily Bronté), Franz Biberkopf aus „Berlin Alexanderplatz“ (Alexander Döblin) und Rodion Romanowitsch Raskolnikow aus „Schuld und Sühne“ (Fjodor Dostojewski).
Das Leben ist zu kurz, um Klassiker zu lesen
Ich habe lange Klassiker gelesen, weil man sie gelesen haben müsse. Vor ein paar Jahren habe ich beschlossen, dass das Leben dafür zu kurz ist. Das bedeutet nicht, dass ich keine Klassiker mehr lese, sondern dass ich sie danach auswähle, ob sie mir vom Stil, von der Handlung, dem Thema und den Figuren gut genug gefallen, dass ich sie zu Ende lesen möchte. Und wenn ich die Wahl habe, ob ich das erste Mal „Ulysses“ fertiglese oder das vierte Mal „The Untamed“3Sorry, ich lasse ungern eine Gelegenheit aus, auf meine chinesischen Serien hinzuweisen. schaue, ist die Entscheidung sehr einfach. Denn die Frage ist doch: Möchte ich irgendwen mit meiner Bildung beeindrucken oder möchte ich meine Freizeit genießen? In dem Sinne: Lest oder schaut also doch einfach mal was abseits unserer eurozentrischen Norm. 😉
Was haltet ihr von meiner Clickbait-Überschrift? Angeblich muss man immer eine Zahl dazuschreiben, wenn man einen Artikel verfasst wie „Die besten Bluetooth-Kopfhörer“ oder „Mittel, die garantiert gegen Haarausfall helfen“ oder „Gadgets, die man immer dabei haben sollte“. Also habe ich einfach mal die Zahl 10 genommen, ohne mich drum zu kümmern, über wie viele Klassiker ich geschrieben habe.