Hat euer Interesse an Fantasy die letzten Jahre auch stark nachgelassen? Mir zumindest ging es so. Denn bevor ich einen Fantasyroman aufschlage, kann ich schon ziemlich genau vorhersagen, was mich erwartet: eine Welt, die dem (west-)europäischen Mittelalter, (west-)europäischer Kultur und (west-)europäischer Landschaft nachempfunden ist, d. h. mit Königreichen, Kriegen, stereotypen Geschlechterrollen, Magie, die von Hexen (auf Besen, halten Katzen) oder Zauberern (mit Zauberstab, tragen einen weißen, langen Bart) praktiziert wird, einem oder einer Auserwählten und vielen weißen Männern. Manchmal heißen die Protagonisten sogar Jim, John und Joe. Auch wenn die Handlung fantastisch ist, langweilen mich diese immergleichen Settings.1Okay, und die stereotypen Geschlechterrollen und die deutliche Unterrepräsentation von weiblichen Protagonisten regen mich auf. Gerade in der Fantasy hat man doch so viel Freiheit, ungewöhnliche Welten zu entwerfen.
Dann bekam ich „The Untamed“ empfohlen
Die Serie,2die von der Webnovel Mó Dào Zǔ Shī (The Grandmaster of Demonic Cultivation) von Mo Xiang Tong Xiu adaptiert wurde. die zum chinesischen Fantasy-Untergenre Xianxia3Das zweite wichtige chinesische Subgenre ist Wuxia.gehört, war 2019 eine der erfolgreichsten in China.4Insbesondere die Serie hat auch eine große und obsessive Anhängerschaft außerhalb. Nachdem zahlreiche Fanübersetzungen der Webnovel entstanden, haben sich 2021 Tokyopop fürs Deutsche und Seven Seas Entertainment fürs Englische die Rechte gesichert. Ich hatte zuerst Probleme, mich in dieser Welt zurechtzufinden, denn
- sie beruht auf einer ganz anderen Kultur. Ich kenne die historischen Personen nicht, auf die Bezug genommen wird, nicht die Hochzeitsbräuche, nicht die daoistischen Konzepte, die das Magiesystem beeinflusst haben, und nicht die symbolische Bedeutung von Kaninchen in der chinesischen Mythologie;
- chinesische Fantasy unterscheidet sich stark von unserer. Die Welt entspricht oft dem chinesischen Mittelalter, Clans ersetzen unsere Adelsgesellschaft, statt Magie wird Kultivierung genutzt und Kultivierer fliegen5Surfen genaugenommen. auf ihren Schwertern. Außerdem gibt es viele asiatische Männer, zu häufig stereotype Geschlechterrollen und wenig Frauen.
Ich war stundenlang damit beschäftigt, zur Serie und zu Xianxia zu lesen, was ich nur finden konnte.6Man kann auch folgen, ohne das zu tun, aber es macht es deutlich schwieriger. Sogar die Erzählstruktur entspricht nicht unseren Erwartungen. Genau das war es aber, was mich so fasziniert hat: Chinesische Fantasy ist anders, ungewohnt, neu.7Das nutzt sich nach einer Weile natürlich ab, weil es auch in Xianxia und Wuxia Genrekonventionen gibt, die sich wiederholen.8Abgesehen davon sind „The Untamed“ und z. B. „Word of Honor“ brillante Serien.
Und davon wünsche ich mir mehr
Als ich vorletztes Jahr versuchte, Krimis außerhalb unseres westlichen Kontexts zu finden, stieß ich zwar auf Bücher, die in anderen Kulturen spielen und einen einheimischen Polizisten als Hauptfigur haben, aber alle stammen von weißen Männern, die ein paar Jahre dort gelebt haben. Das ist nicht dasselbe wie ein Krimi (oder Fantasyroman) von koreanischen, peruanischen oder nigerianischen Autor*innen.9Auf der Suchen nach einem Blog über fantastische, asiatische Literatur habe ich drei Krimiempfehlungen aus Asien gefunden. Leider ist es jetzt zu spät, seitdem ich mich praktisch nur noch für chinesische Fantasy interessiere.
Die letzten Jahre hat sich auf dem deutschen Buchmarkt etwas getan hat. Schwarze Fantasy- und Science-Fiction-Autor*innen wie Nnedi Okorafor und N. K. Jemisin sind mehr in den Fokus gerückt und Liu Cixin konnte mit „Die drei Sonnen“ einen großen Erfolg verbuchen.
Aber nichtwestliche Literatur wird leider nach wie vor vernachlässigt. In Buchhandlungen und Bibliotheken findet man fast nur westeuropäische und nordamerikanische Autor*innen. Sie sind es, die normalerweise an Schulen gelesen werden und in Fach- und Sachbüchern besprochen werden. Die meisten Romane werden aus dem Englischen übersetzt, weswegen Stimmen aus nicht-englischsprachigen Ländern fehlen.
Das führt zu einer bestimmten, falschen Denkweise: Ich habe noch nie von einem berühmten chinesischen Autor gehört, also gibt es wohl keine. Wir haben in der Schule nie einen Klassiker aus Afrika besprochen, also gibt es wohl keine. Der deutsche Wikipedia-Eintrag zu Fantasy dreht sich nur um westliche, also gibt es wohl keine erwähnenswerte in anderen Kulturen und Ländern.
So entgehen uns großartige Geschichten, Einblicke in andere Kulturen und Sichtweisen sowie erfrischend andere Erzählweisen. Xianxia, Wuxia, Xuanhuan oder Afrofuturismus sind nur ein paar Beispielgenres aus der weiten, unbekannten Welt nichtwestlicher Literatur. Wenn ihr offen dafür seid, mal etwas anderes auszuprobieren, dann habe ich am Ende noch ein paar Tipps für euch.
Zum Stöbern laden ein
Asian Fantasy Books auf Goodreads
Youtube-Kanal von AvenueX zu chinesischen Drama-Serien10Viele chinesische Serien beruhen auf Webnovels/Romanen. Dieser Kanal ist daher ein guter Startpunkt, um nach Xianxia- und Wuxialiteratur zu suchen – oder damit anzufangen, chinesische Serien zu schauen.
Interkontinental, ein Verein zur Förderung afrikanischer Literatur
Eine große Auswahl asiatischer Serien findet ihr legal und kostenlos auf Rakuten Viki11Auch „The Untamed“ 🙂
Reading Black Futures mit einer Liste weiblicher und männlicher phantastischer Schwarzer Autoren