Es gibt so viele Romane, Graphic Novels, Filme und Serien1und Blogartikel – wie entscheidet man sich nur, welchen man eine Chance gibt? Wenn wir – um bei Büchern zu bleiben – die erste Seite aufschlagen, müssen wir in die Welt hineingezogen werden. Wie wird das erreicht? Indem wir Leser ködern.
Was ist ein Köder?
Die klassische Definition spricht davon, dass der Köder uns neugierig macht und eine Frage aufwirft, die wir beantwortet haben wollen. Er erzeugt also Spannung.
Ein Köder ist aber mehr als nur ein gelungener Einstieg. Der Köder kann auch der Name des Autors oder der Autorin sein. Gebt mir einen Kurzgeschichtenband von Alice Munro, den ich noch nicht kenne, und ich nehme ihn mit. Ich muss nichts weiter wissen, um ihn lesen zu wollen.
Vor Kurzem habe ich „Tress of the Emerald Sea“ von Brandon Sanderson gelesen. Die ersten vier Seiten hat sich mir keine einzige Frage gestellt, die ich beantwortet haben wollte. Ich fand weder die Welt noch die Hauptfigur interessant. Der einzige Grund, aus dem ich drangeblieben bin, war, dass der Roman von Sanderson ist. Ich weiß, dass er ein großartiger Erzähler ist, und so war ich bereit, abzuwarten, und er hat mich nicht enttäuscht.2Falls ihr noch nichts von Sanderson gelesen habt, empfehle ich euch aber, mit anderen Romanen von ihm anzufangen: Die Nebelgeborenen-Trilogie, die Wax-und-Wayne-Reihe oder die Defiance-Reihe. Aber wäre es nicht Sanderson gewesen, hätte ich es wahrscheinlich weggelegt. Wer also keinen Kultstatus hat, sollte ausreichend Zeit darauf verwenden, für seine Leser Köder am Beginn auszulegen.
Cover, Titel, Klappentext, auch das sind Mittel, um Leser zu ködern, und sie reichen manchmal aus.3In meinem Fall reicht es auch, mir zu sagen: Das ist die Übersetzung einer chinesischen Webnovel … Zumindest dafür, dass wir das Geld in der Buchhandlung ausgeben oder das Buch in der Bibliothek entleihen.
Leser ködern mit dem ersten Satz
In Beispiele für gutes Schreiben sammeln hatte ich ein paar erste Sätze genannt, die mich ködern.
Der Mann in Schwarz floh durch die Wüste, und der Revolvermann folgte ihm.
Stephen King: Schwarz
Das sind die Fragen, die bei mir dazu aufkommen: Wer ist der Mann in Schwarz – ist er die Hauptperson? Wovor flieht er? Weiß er, dass der Revolvermann ihm folgt und flieht vor ihm? In welcher Absicht folgt ihm der Revolvermann – will er ihm helfen oder ihn gefangen nehmen/töten? Ist der Revolvermann der Protagonist oder der Antagonist? Die Wüste ist ein lebensfeindlicher Ort – wie werden die beiden ihn überleben? Warum nimmt der Mann in Schwarz den gefährlichen Weg durch die Wüste?
Das sind ziemlich viele Fragen für einen Satz – und damit ein guter Einstieg. Außerdem zeigt der erste Satz Bewegung. Eine dynamische Szene erzeugt bei uns das Gefühl, dass etwas passiert, und erscheint uns daher interessanter als eine statische.
Leser ködern mit den ersten Absätzen
Der Köder muss aber nicht im ersten Satz stecken. Fforde baut in „Eiswelt“ die Spannung langsam auf.
Mrs. Tiffen spielte Bouzouki. Nicht besonders gut allerdings. Und sie beherrschte auch nur eine Melodie: „Help yourself“ von Tom Jones. Sie zupfte die Saiten durchaus meisterlich, ließ aber jegliches Gefühl dabei vermissen, während sie mit leerem Blick aus dem Zugfenster auf das Eis und den Schnee draußen starrte. Sie und ich hatten, seit wir uns vor fünf Stunden das erste Mal begegnet waren, kein vernünftiges Wort gewechselt, und dafür gab es einen vernünftigen Grund. Mrs. Tiffen war tot, und das schon seit einigen Jahren.
Jasper Fforde: Eiswelt
An welcher Stelle hat es euch am stärksten getriggert, weiterzulesen? Ich tippe auf den letzten Satz, wie es bei mir der Fall war.
Wenn ein Erwachsener ein Musikinstrument spielt, gehe ich erst einmal davon aus, dass die Person es beherrscht – aber im zweiten und dritten Satz wird dem widersprochen. Ich ändere meine Vermutung dahingehend, dass sie Anfängerin ist.
Der nächste Satz verrät uns, dass sie technisch durchaus versiert ist, aber ohne Gefühl spielt. Ich frage mich daher: Okay, sie beherrscht dieses Instrument – wie ist es dann möglich, dass sie nur ein Lied spielen kann? Wieso spielt sie ohne Gefühl und mit leerem Blick? Hat sie vielleicht einen Schock erlitten? Aber das erklärt nicht, warum sie nur ein Lied spielen kann. Ein Zug ist außerdem ein unüblicher Ort, um ein Instrument zu spielen. Auch das erzeugt Neugierde.
Im nächsten Satz erfahren wir endlich, wer uns die Geschichte erzählt: Es ist ein Ich-Erzähler. Er begleitet sie offensichtlich, aber sie reden nicht miteinander, haben sich nicht einmal begrüßt. Das ist seltsam. Aber, verspricht uns der Erzähler, ich kann das erklären. Das ist der Punkt, an dem Fforde liefern muss, sonst verpufft die ganze aufgebaute Spannung, und er tut es. Die Auflösung zur Frage darf uns nicht enttäuschen, sonst legen wir das Buch an der Stelle weg.
Auch der versierte Umgang mit Sprache ist ein Köder
Ist euch außerdem aufgefallen, wie die Satzlänge bei „Eiswelt“ sich ändert? Die ersten beiden Sätze bestehen aus vier Wörtern, der dritte aus zwölf. Der vierte und fünfte Satz aus … sehr vielen. Das dient dazu, einen Sog zu erzeugen. Der letzte, sechste Satz ist dagegen wieder kurz, um den Schockeffekt zu verstärken. Wir folgen den langen Sätzen, erst dem dritten, dann dem vierten und fünften wie einem Fluss, der rasch dahinströmt, um dann gegen ein Hindernis zu prallen: Mrs. Tiffen war tot, und das schon seit einigen Jahren.
Wenn ich merke, dass der Autor so mit Sprache umgehen kann, ist auch das ein Köder: Der kann schreiben, da kann ich mich seiner Geschichte anvertrauen.
Der richtige Köder für jedes Genre
Was jemanden beeindruckt, kann mich kalt lassen. In die Luft fliegende Autos z. B. Der richtige Köder hängt daher auch von der Zielgruppe bzw. vom Genre ab. In einer Liebesgeschichte die Anspielung darauf, dass es romantische Verwicklungen geben wird:
Es ist eine allgemein anerkannte Wahrheit, daß ein Junggeselle im Besitz eines schönen Vermögens nichts dringender braucht als eine Frau.
Jane Austen: Stolz und Vorurteil
In einem Krimi lassen sich Leser eventuell durch die Entdeckung eines Mordes ködern:
„Gestern war er noch gesund“, sagte Maude. Ihre Ohren zuckten nervös.
„Das sagt gar nichts“, entgegnete Sir Ritchfield, der älteste Widder der Herde, „er ist ja nicht an einer Krankheit gestorben. Spaten sind keine Krankheit.“
Leonie Swann: Glennkill
Wobei der Köder hier mehr ist als der Mord, nämlich, wer den Mord entdeckt – eine Herde Schafe.
In einem Thriller können auf der ersten Seite Autos in die Luft fliegen, aber es reicht auch die Andeutung von Aufregung, Gefahr und Glamour:
Im Leben eines Geheimagenten gibt es Momente voller Luxus. Bei manchen Aufträgen muss er die Rolle eines sehr reichen Mannes spielen.
Ian Fleming: Leben und sterben lassen
Mag ich Humor? Dann ködern mich wahrscheinlich „Stolz und Vorurteil“ und „Glennkill“. Wer aber Fan von Hardboiled-Krimis ist, wird nach den ersten Sätzen merken, dass „Glennkill“ nicht das Richtige ist. Stehe ich auf Horror? Dann fängt mich ein düsterer Beginn ein. Der richtige Köder ist auch der richtige Ton und die richtige Stimmung je nach Genre. Ein James-Bond-Roman, der mit dem Satz aus „Stolz und Vorurteil“ anfängt, funktioniert nicht.
Genretypische Köder
Falls ihr viel Sherlock Holmes lest oder Star Trek schaut, ist euch vielleicht aufgefallen, dass es dort bestimmte Köder gibt, die öfter verwendet werden. Sherlock erhält einen Brief, der den Besuch eines Klienten ankündigt. Oder er beobachtet eine Frau vor der Baker Street 221B, die sich nicht entschließen kann zu klingeln. Manchmal ist es auch der Besuch selbst. Der echte Köder aber sind Sherlocks Beobachtungen über diese Personen, die er Watson mitteilt und unsere Neugierde schüren. Bei Star Trek geht oft ein Notrufsignal ein oder ein mysteriöses Phänomen soll näher untersucht werden. Obwohl diese Köder immer wieder benutzt werden, scheinen sie sich nicht abzunutzen.
Die Merkmale eines guten Köders
Wenn ihr herausfinden wollt, warum ein Anfang euch ködert, oder einen Anfang schreiben wollt, der Leser ködert, achtet darauf, ob eins der folgenden Merkmale erfüllt ist:
Neugierde wird geweckt: Wer ist die Frau, mit der der Junggeselle mit Vermögen verkuppelt werden soll?
Spannung wird aufgebaut: Wird der Revolvermann den Mann in Schwarz einholen und was geschieht dann?
Es wird Bewegung vermittelt: Der Mann in Schwarz flieht und der Revolvermann folgt ihm.
Eine ungewöhnliche Welt oder Personen werden vorgestellt: Eine Herde Schafe entdeckt ihren Schäfer morgens ermordet auf der Weide und beschließt, den Täter zu finden. Ob es ein Wolf war, neben dem Metzger das meistgefürchtetste Wesen unter Schafen?
Ein Widerspruch wird erzeugt: Wenn Mrs. Tiffen tot ist, wie kann sie dann Bouzoki spielen?
Vermieden werden sollten dagegen Beschreibungen alltäglicher Szenen, die langweilig sind – außer es gibt eine unterschwellige Spannung, das Gefühl, dass nicht alles so ist, wie es scheint. Genauso wenig sollte die Situation zu Beginn aber dermaßen ungewöhnlich und unübersichtlich sein, dass die Lesenden sich nur eins fragen, nämlich: Was um alles in der Welt passiert hier?
Wie ihr seht, ist ein Köder viel mehr als das, was die klassische Definition beinhaltet.
Übrigens: Vom Köder wird nur am Anfang gesprochen, aber natürlich muss das ganze Werk von Ködern durchzogen sein, die uns immer weiter locken. Sobald eine Frage beantwortet ist, müssen sich neue stellen.
Ködern euch die von mir genannten Beispiele auch? Oder habt ihr selbst ein Beispiel?
Fun Fact
Das Bild zu diesem Blogartikel habe ich mit der KI DreamStudio generiert. Als Prompt hatte ich angegeben: „Zwei Kinder folgen einer Spur aus Süßigkeiten in einen Wald, strahlender Sonnenschein, Anime.“ Ihr könnt ja mal beurteilen, wie gut die Umsetzung dieser Beschreibung geklappt hat. 😉4Es ist viel besser als das Meiste, was ich bei anderen, kostenlosen KI-Programmen erhalten habe. Und weil mich das Thema so fasziniert hat, habe ich noch zwei eigene Artikel zur Bildgenerierung durch KI verfasst.
Zum zweiten Teil über das Schreiben eines Köders geht es hier.