Jetzt seid ihr bestimmt neugierig, was Newton mit Tee und dem Schreiben zu tun hat. Nun ja, das erste Newtonsche Gesetz beschreibt folgendes Prinzip:
Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung, sofern jener nicht durch einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.
Anders ausgedrückt: Was sich erst mal in eine Richtung bewegt, bewegt sich weiter in diese Richtung, wenn es nicht durch andere Kräfte gestoppt wird. Oder wenn es sich nicht bewegt, bewegt es sich auch weiterhin nicht, außer es wird durch einen äußeren Umstand dazu gezwungen. Diese Naturgesetze müssen auch beim Schreiben beachtet werden, z. B. im Zusammenhang mit Tee.1Auch wenn wir dafür nicht wissen müssen, wie es heißt.
Was hat Newton mit Belletristik zu tun?
Der Typ ist groß und hat einen Seitenscheitel. In der einen Hand hält er einen Becher Tee […]
Eine halbe Seite später fällt dem Typen auf, dass er gerade die Person getroffen hat, die er gesucht hat. So verleiht er seiner Freude Ausdruck:
„Victoria Spring!“ Er reißt aufgeregt die Arme hoch.
Alice Oseman: Solitaire
Physik ist nicht meine starke Seite, aber eins weiß ich: Wenn ich eine Hand nach oben reiße, in der ich einen Becher mit Tee halte, dann spritzt der Tee an die Decke.2Oder eben: „Ein Körper verharrt im Zustand der Ruhe oder der gleichförmig geradlinigen Bewegung, sofern jener nicht durch einwirkende Kräfte zur Änderung seines Zustands gezwungen wird.“ Und es befindet sich Tee in dem Becher, denn er trinkt wenig später daraus.
Vielleicht wollte die Autorin einen interessanten Begleitsatz zur wörtlichen Rede schreiben und nicht etwas wie Er schaut mich aufgeregt an. Sie hatte aber offensichtlich ihr Setup nicht gut im Blick.3Und ihr*e Lektor*in ebenfalls nicht. Die Szene ist dadurch nicht logisch, weil sich der Tee nicht an Newtons erstes Gesetz hält.
Wie vermeidet man solche Fehler, bei denen Naturgesetze gebrochen werden?
Die Naturgesetze beim Schreiben beachten
Einer meiner Autoren versetzt sich in seine Charaktere und nimmt die Umgebung mit allen Sinnen wahr. Er sieht das Meer von seiner Bank auf der Promenade, er spürt das raue Holz unter sich, hört die Rufe der Hafenarbeiter und riecht den Rosenstrauch neben sich. Er lässt die Szene aber auch weiterlaufen. Wenn hinter ihm eine Eisverkäuferin ihren Wagen entlangschiebt, übertönen ihre Rufe die der Hafenarbeiter und ein kühler Luftzug streift seinen Nacken. Auch dass ihr Ruf lauter ist und der Luftzug ihn kühlt, hat mit irgendwelchen Naturgesetzen zu tun.4Wer sich Fleißpunkte verdienen möchte, kann in die Kommentare schreiben, um welche es sich handelt. 😉
Ich denke, dieser Autor hätte im Blick gehabt, was passiert, wenn jemand einen Becher mit Tee nach oben reißt. Denn er hätte vor seinem inneren Auge durchgespielt, wie die Szene realistischerweise abläuft, und den Tee nach oben spritzen sehen.
Selbst bei Fantasy oder Science-Fiction müsst ihr die Naturgesetze beim Schreiben beachten. In den Welten dort mögen andere gelten als bei uns, aber auch dort gibt es welche. Wenn dort Tee im Becher bleibt, wenn man die Arme nach oben reißt, muss er immer im Becher bleiben. Er kann nicht in einer Szene auf einmal an die Decke spritzen.
Habt ihr noch andere Ideen, was man tun kann, um Problemen mit den Naturgesetzen auf die Schliche zu kommen?
PS: In dem Ausschnitt aus Solitaire versteckt sich noch ein weiterer Fehler. Woher weiß Victoria, dass sich in dem Becher Tee befindet, wenn der Typ mehrere Meter von ihr entfernt steht? Zur Perspektive – denn um einen Perspektivfehler handelt es sich hier – hat meine Kollegin Anya Lothrop einen Artikel veröffentlicht. Auch der Fehler wäre entdeckt worden, wenn man durch die Augen der Protagonistin geblickt hätte. So hätte man festgestellt, dass man den Inhalt des Bechers nicht sehen kann.